Aus der Geschichte der Leipziger Goethe-Gesellschaft
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Eine frühe Form bestand in Leipzig bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Unter der Leitung des Schriftstellers Otto Siedel konstituierte sich 1901 als "Goethe-Gesellschaft" ein allgemeiner Literaturverein, der sich die Verbreitung und Pflege der Literatur von der Goethezeit bis zur damaligen Moderne zum Ziel setzte. Vorstandsmitglied war u.a. Max Klinger. Namhafte Referenten wie Albert Köster, Theodor Friedrich, Karl Lamprecht, Wilhelm Ostwald unterstützten den Verein, der bis in den Ersten Weltkrieg hinein eine beachtliche Öffentlichkeitsarbeit entfaltete.
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Im Jahr 1925 begründete sich die "Goethe-Gesellschaft Leipzig", eine selbständige Ortsvereinigung der seit 1885 bestehenden Weimarer Muttergesellschaft. Den Vorsitz hatte der Literarhistoriker Hermann August Korff inne. Im Vorstand wirkte auch der Chirurg und Faust-Sammler Gerhard Stumme mit. Die Vereinigung hatte etwa 200 Mitglieder und veranstaltete bedeutende Vortragsabende, kam jedoch Anfang der 30er Jahre aus wirtschaftlichen und subjektiven Gründen zum Erliegen.
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Eine Neubegründung im Kriegsjahr 1940 führte unter gänzlich anderen Bedingungen zu einer außerordentlichen Belebung und Verbreiterung der Tätigkeit. Initiatoren waren vor allem der Oberlehrer Paul Schlager, der Schriftsteller Valerian Tornius und der Studienrat Joachim Müller; Förderung kam vom Leiter des Inselverlags und Präsidenten der Weimarer Goethe-Gesellschaft Anton Kippenberg. Eine Vereinnahmung durch die NS-Partei wurde (laut Aufzeichnungen P. Schlagers) mit Erfolg abgewehrt.
Unter Vorsitz von Bibliotheksrat Reinhard Fink, seit 1942 von Studienrat Martin Loesche entfaltete die Leipziger Ortsvereinigung eine Fülle von Aktivitäten: Vorträge, Studienabende, Preisausschreiben an den Höheren Schulen der Stadt. Gegen Kriegsende umfaßte sie über 1.800 Mitglieder (!). Eine Veröffentlichungsreihe kam innerhalb von 4½ Jahren auf 17 Nummern. Höhepunkte bildeten die Goethe-Wochen 1942 und 1943: mit prominenten Vortragenden wie Hermann August Korff, Hans Georg Gadamer, Karl Reinhardt, Johannes Jahn, Eduard Spranger, mit Veranstaltungen des Thomanerchors unter Günter Ramin und Leipziger Vortragskünstlern. Der vorherrschende Geist dieser Veranstaltungen, gerichtet auf eine humanistische Werteorientierung in barbarischer Zeit, spricht aus dem Motto zur Eröffnung der zweiten Goethe-Woche am 7. November 1943 im Festsaal des Neuen Rathauses:
Manches Herrliche der Welt
Ist in Krieg und Streit zerronnen;
Wer beschützet und erhält,
Hat das schönste Los gewonnen.
Weniger als vier Wochen später, am 4. Dezember 1943, sank die Stadt in Schutt und Asche.
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Die Unterbrechung am Kriegsende bedeutete nicht das Erlöschen der Arbeit. Das Bemühen um Kontinuität und Ansätze zu einer Neuorientierung verschränkten sich — indes auf zunehmend widersprüchliche Weise.
Vorträge und Studienabende liefen bald wieder an. Schlager baute die in der Notzeit des Krieges begründete Goethe-Bibliothek weiter aus und arbeitete, von Mitgliedern auch anderer deutscher Ortsvereinigungen unterstützt, unermüdlich an der Fertigstellung einer umfassenden Goethe-Bibliographie (posthum publiziert als Bd. IV/5 von Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung, Akademie-Verlag Berlin 1960). Die Mitgliederzahl hatte 1947 die 1.000 wieder überschritten.
Die im Gefolge der Währungsreform 1948 neuerlich eingetretene prekäre Finanzlage und vor allem der sich im Herbst 1948 im Zuge der kulturpolitischen Entwicklung abzeichnende Verlust des Status als selbständiger Verein führten in der Folge zu einer spürbaren Beeinträchtigung. Die Zuordnung zum Kulturbund als "demokratischer Massenorganisation", die gegen den Widerstand des Vorstands, namentlich des Schriftführers Schlager, im März 1949 verfügte zwangsweise Überführung der Bibliothek und der Vereinsunterlagen in KB-Gewahrsam entzogen wichtige Arbeitsmöglichkeiten. Zwar gelang es weder, die Ortsvereinigung formell dem Kulturbund zu inkorporieren, noch die Mitglieder in ihrer Gesamtheit zum Organisationseintritt zu bewegen. Doch reduzierte sich die Bedeutung der Vereinigung trotz der Bemühungen ihrer Vorsitzenden Valerian Tornius und später (1964–1967) Heinz Bär von einer ehemals kulturtragenden öffentlichen Institution allmählich zur Rolle eines begrenzten Interessenten- und Liebhaberkreises.
Diese im ganzen rückläufige Entwicklung setzte sich auch unter dem Vorsitz der marxistischen Literarhistorikerin Hedwig Voegt (1967–1974) fort. Eine Einengung des thematischen Profils und Tendenzen einseitiger ideologischer Ausrichtung setzten der Wirksamkeit Grenzen. Andererseits konnte die Veranstaltungsstruktur durch Einführung gedruckter Jahresprogramme gefestigt werden.
Der weiteren Tätigkeit, seit 1974 unter dem Vorsitz von Josef Mattausch, kamen die sich langsam verbessernden Rahmenbedingungen zugute: Erweiterung des kulturpolitischen "Erbe"-Begriffes, Einbeziehung kritischer DDR-Literatur mit neuen Traditionsbewertungen, Öffnung gegenüber bislang tabuisierten Themen. Schon vor der Wende konnten westdeutsche Vortragsgäste wieder begrüßt werden, und der Vorsitzende knüpfte auf Vortragsreisen Beziehungen zu westdeutschen Ortsvereinigungen. Eine förderliche Rolle spielte dabei die Weimarer Goethe-Gesellschaft, die, zuzeiten des Kalten Krieges als übergreifende internationale Gesellschaft fest etabliert, schon früh den Boden für konstruktive Ost-West-Begegnungen darbot.
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Der grundlegend veränderten Situation nach dem Untergang der DDR und ihrer "Überbau"-Strukturen trug die Leipziger Ortsvereinigung dadurch Rechnung, daß sie sich im Frühjahr 1992 zur "Leipziger Goethe-Gesellschaft e. V." umwandelte und damit an die 1925 begründete Tradition anschloß. In Zusammenarbeit mit rund 60 Ortsvereinigungen im Osten und Westen Deutschlands und im engen Kontakt mit der Weimarer Muttergesellschaft, zugleich um ein spezifisch Leipziger Profil bemüht, setzt die Leipziger Goethe-Gesellschaft nach wechselvoller Geschichte ihre Tätigkeit fort: zu tieferem Verständnis des deutschen Europäers und Weltbürgers Johann Wolfgang Goethe und für das Weiterwirken großer Literatur und humanistischen Gedankengutes.